Reisen in der Schweineklasse

Nach vielen zehntausenden Kilometern Langstrecke die ich zu überleben gezwungen wurde, soll an dieser Stelle das Hohelied auf eine neue Klasse gesungen werden, die mit dem Erschwinglichwerden von Flügen vor zehn bis zwölf Jahren von den Gesellschaften auf Basis der Holzklasse mutiert wurde: die Schweineklasse. Bis zu besagtem Zeitpunkt war Linie fliegen (und ziehen) das Privileg einer bewusst bzw. berufsmäßig reisenden Schicht, welche höchstens hier und da von einen Verirrten durchstossen wurde. Niedere Schichten kamen mit Flugzeugen höchstens einmal im Jahr und dann nur abgesondert auf zurecht "pauschal" benannten Reisen in Berührung. Man erkennt diese "Reisenden" meistens daran, dass die Damen mit Schminkkoffer und unter den Herren eine Anzahl Negertöter unterwegs sind. Letzlich muss noch ein für den Reisenden befremdliches Verhalten erwähnt werden: am Ende eines solchen Fluges scheint es, als hätten die Passagiere den Flug mit einer Theateraufführung verwechselt - es wird geklatscht, obwohl kein Gründgens weit und breit.

Bilder aus der Schweineklasse Namensherkunft der Schweineklasse Säue in der Klasse Bessere Tage: Literaturzirkel

Was waren das damals für Zeiten unter dem Kaiser! Auf dem Flughafen war immer Fasching und man stand bis zu den Knien in Konfetti. Es gab am Gate kostenlose von der Gesellschaft arrangierte Snacks (Schnittchen und Obst), Getränke - reichend von Kaffe bis HI Kola, Zeitungen bzw. -schriften, ein wenigstens halbwegs aufrichtiges Lächeln vom Personal sowie kein Gedränge. Man war unter sich, jeder war Fachmann oder -frau für Linienflug oder -zug und niemand nötigte das Personal zu unnötigen Auskünften. Und erst innerhalb des Flugzeugs. In der Holzklasse rannte aller zehn Minuten ein Steward oder sein weibliches Gegenstück mit Getränken vorbei - vorn hinter dem magischen Vorhang hörte dieses Rennen nie auf. Dort kam es zu einer regelrechten Jagd - ja Hatz - um die Zufriedenheit des Reisenden!

Über dem Kopf des Reisenden gibt es (so auch heut noch in der Schweineklasse) einen Rufknopf. Nach dem betätigen des selben kam früher außerhalb des zehnminütigen Turnuses eine nette Stewardess mit Notizblock und Stift, um die von den Augen abzulesenden Wünsche des Reisenden zu notieren ("Ach sagen sie bloß!"). Bei ihr konnte man zwischen außerzyklischem Getränk und neuer Kotztüte alles bestellen was das Herz auf einem Flug begehrt. Das Platzangebot in solch einem aus heutiger Sicht paradiesisch mutendem Flieger war gigantisch. Die Reihen standen genauso dicht wie heut - daran ist kein Zweifel und wir wollen ja bei der Wahrheit bleiben. Aber! - es gab pro Reisenden mindestens drei Plätze, sodass man sich gemütlich hinlegen, andere Passagiere zum Plauschen besuchen oder am Literaturzirkel in Reihe zweiundzwanzig / dreiundzwanzig teilnehmen konnte wenn Grasss oder Arm-Ranicki an Bord waren. Von Dritten hörte ich, dass Flugzeuge kurzerhand zur Bar umfunktioniert wurden und mancher Reisende im Anschluß nicht Linie flog sondern Schlange ging.

Seitdem die Holzklasse verfault ist und man Schweineklasse fliegen muss, ist das Reisen zur Qual geworden, und man sollte sich überlegen auch in diesem Bereich wieder auf die klassischen Mittel zurückzugreifen. Die Amputation des Seins beginnt schon auf dem Flughafen. Nach dem Check-In warten weder Snack noch Zeitung - das kann man sich jetzt alles zum dreifachen Preis z.B. im Flughafenrestaurant kaufen. Dafür fühlt man sich auch wie zu Hause auf deutscher Autobahnen Raststätten: es gibt alte belegte Brötchen (nur kleiner als in der Mitropa Freienhufen) mit so einem widerlichen Eisbergsalatblatt, welches den Käse durchweicht und ansonsten nach nichts schmeckt.
Früher war es auf Flughäfen wie an Weihnachten. Es gab teure Läden mit Dingen, die man sich nicht oder nur selten leisten kann und der Wunsch war Vater des Gedanken. Man konnte noch seine Nase wie ein Kind an den Scheiben plattdrücken - denn reingehen würde man sich niiiiieeee erlaubt haben, so dufte sah das alles aus. Es fehlte nur der Schnee und die Kälte - aber das ist ja auch zuviel verlangt zur ganzjährigen weihnachtlichen Stimmung noch ein bisschen Schnee zu tun! Heute läuft man durch einen riesigen billigen Trödelmarkt wo es Dies und Das alles unter einem Euro (Dollar, Währung Deiner Wahl) für Lieschen Müller gibt. Bevor ich da bei André Montoro oder Charly Gaulle ans Wühlregal gehe, esse ich lieber eines der oben beschriebenen Brötchen (würg).

Erst an Bord eines Fluges der länger als drei Stunden dauert und mehr als eine Zeitzone durchquert wird einem bewußt, was es bedeutet in die Schweineklasse gepfercht zu sein. Wenn man erfahren genug ist, setzt man sich auf einen Gangplatz oder in die erste Reihe bzw. an die Notausgänge (ich habe alle Bekannten von oben erwähnten früheren Flügen auf jenen Plätzen wiedergetroffen). Aber manchmal hatte ich Pech und wurde anderswohin verfrachtet. Heiliger Klabautermann! Eingesperrt zwischen zwei fetten Schweinen konnte ich nicht einmal meine Armlehnen nutzen - denn dort quoll der Leib des neben mich Gepressten - am mittelalterlichen Pranger muss es bequemer gewesen sein! An Bewegung sowie Aufstehen war nicht zu denken und ich hatte Angst um das servierte "Essen", denn es schielten zwei ungesättigte Augenpaare von rechts und von links sehnsüchtig auf meinen "Teller". Der Eine litt an Mangelversorgung und hatte bis aufs letzte Krümel Salz alles verspeist. Danach bekam er Blähungen und ich saß nicht mehr in einem Flugzeug sondern im Schützengraben vor Verdun - ohne Gasmaske. Schlafen war unter diesen Bedingungen unmöglich und ich zog in Erwägung zur Ablenkung einen Film anzuschauen oder Tetris zu spielen - was an sich schon weit weg vom Niveau eines Literaturzirkels ist (für alle Nichtflieger: auf der Langstrecke hat jeder Platz eine eigene Multimediakonsole). Natürlich hatte ich Pech und das Display funktionierte nicht.

Ich bat Stewardess Heike irgendetwas gegen meine aussichtslose Lage zu unternehmen. Leider hat sie wohl bis 1990 in der HO Gaststätte Bitterfeld gearbeitet (Wohl bekomms!) und meinte, ich solle mich erst einmal hinten anstellen, vor vier Uhr wäre nichts zu machen. Ich wollte noch fragen an welche Zeitzone ich mich halten müsste, bekam aber als ich den Mund öffnen wollte nur einen empörten Blick zurück: wie ich mir denn erlauben könne, noch eine Frage zu stellen... Dergestalt wurde ich in der Schweineklasse auch noch Opfer der Nachwirkungen des Kommunismus und resignierte vor der Übermacht der Widrigkeiten. Ich verharrte also regungslos vor Verdun, war durstig trotz steigendem Wasserpegel in meinen Knien und hielt die Stellung bis ich Entsatz von den Franzosen bekam: ich war in Charly Gaulle angekommen und stieg auf Kurzstrecke um.

 

Zurück zur Startseite

 

Fotoalben

Hier klicken, um alle Fotoalben auf Picasa anzusehen.

El Admin Artikel


Werbung

Ingenieurbüro für Tragwerksplanung, Baustatik und Mauerwerksbau: jaeger-ingenieure.de

Webseite ab 99,- CHF im Monat günstig bei easyweb.ch mieten!